Auch die optimistischsten EE-Denkfabriken bestätigen, dass Stromanbieter in den kommenden Jahrzehnten die privaten E-Auto-Ladeleistungen begrenzen und den Ladestrom temporär drosseln müssen.
Zur Frage, wie teuer der Ausbau des Stromnetzes werden wird und ob es die Zusatzlast der Elektromobilität schließlich wird tragen können, gehen die Meinungen weit auseinander. Prof. Georg Brasseur von der TU Graz ist sicher:
„Ein unkontrollierter Zugang zu allen geplanten Ladestationen würde das Netz zusammenbrechen lassen.“
Zu den Kosten für den Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze im Rahmen der Energiewende liegen Studien und Stellungnahmen vor. Die folgenden Papiere wurden gesichtet und kritisch kommentiert:
- Agora/RAP: „Verteilnetzausbau für die Energiewende“
- dena: „Leitstudie Integrierte Energiewende“
- Fraunhofer ISI: Langfristszenarien für die Transformation des Energiesystems in Deutschland
- ZVEI: Stromnetze der Zukunft
Am Schluss folgt ein Fazit.
Agora/RAP: „Verteilnetzausbau für die Energiewende“
Das Papieri wurde 2019 von zwei Agora-Denkfabriken und dem Regulatory Assistance Project (RAP) veröffentlicht. Es soll diese Frage beantworten:
„Können die Strom- bzw. Verteilnetze zu vertretbaren Kosten fit gemacht werden, um den Herausforderungen gerecht zu werden?“
Das Ergebnis:
„Zukünftig muss im Mittel nicht mehr in Leitungen und Transformatoren investiert werden als in der Vergangenheit.“
Diese Aussage erscheint auf den ersten Blick wenig plausibel, da unstrittig ist, dass die Leistung des Stromnetzes kräftig steigen muss. Des Rätsels Lösung: Agora hat die Umstellung des Individualverkehrs auf Elektromobilität mit einer so genannten Mobilitätswende verknüpft und bei den Modellierungen vorausgesetzt, dass die Zahl der Pkw bis 2050 um 15 Millionen sinken wird:
„Der Anteil des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) an der Verkehrsleistung nimmt stark ab. Dadurch reduziert sich der Pkw-Bestand auf 30 Mio. Fahrzeuge“ (S. 42)
(Hinweis: Von 2019 bis 2022 nahm die Zahl der Pkw in Deutschland um 1,5 Millionen zu.)
Von E-Auto-Fahrern wird außerdem erwartet, erhebliche Eingiffe der Stromanbieter in den Ladevorgang hinzunehmen:
- Der Strom wird „durch den Verteilnetzbetreiber vorgegebene Maximalfahrpläne für die Nutzung des Ladepunkts“ de facto rationiert (S. 16).
- Die Folgen werden deutlich über geringfügige Komforteinbußen hinausgehen: „Das Nachladen der Fahrstrecke innerhalb der Standzeit des Fahrzeuges kann nicht mehr in jedem Fall garantiert werden. Insbesondere kurze Standzeiten sind davon betroffen.“ (S. 50)
- Sogar Betriebshöfe müssen sich erheblichen Einschränkungen unterwerfen, indem „die zu berücksichtigende Leistung … auf 20 Prozent ihrer Netzanschlussleistung reduziert“ wird. Das „Laden von Bussen im Betriebshof“ hat „größtenteils nachts zu erfolgen“, damit „ihre Leistungsspitzen nicht zeitgleich mit Lastspitzen der Schnellladestrukturen auftreten“. (S. 52)
Die Leistungen privater Ladepunkte werden begrenzt:
„Die Bereitstellung einer ungesteuerten Ladeleistung von 22 kW erweist sich hingegen bereits im Bereich des hier betrachteten früheren Markthochlaufs aufgrund des zu erwartenden Netzausbaus als schwer realisierbar.“ (S. 58)
Die Autoren würden den Strombedarf gerne durch eine noch stärkere Autofahrervergrätzung veringern:
„Die prognostizierte Anzahl der Pkw könnte sich je nach überwiegender Nutzung unterschiedlich stark reduzieren. Laut einer Studie über Lissabon könnte die Anzahl der Pkw dort auf 17 Prozent des Bestands reduziert werden, wenn der MIV durch AutoVots bedient würde. Mit der Nutzung von Taxibots wäre sogar eine Reduktion auf 10 Prozent möglich.“ (S. 66)
Denn es ist ihnen bewusst, dass große Unsicherheiten bleiben:
„Auch berücksichtigt die Studie sehr viele Ladepunkte beim Arbeitgeber. Inwiefern sich dieses Konzept durchsetzt, ist momentan unsicher.“ (S. 66)
„Übersteigt die zukünftige Versorgungsaufgabe die Möglichkeiten des Netzausbaus, sind Netzneubaumaßnahmen erforderlich.“ (S. 54)
Ob die Investitionskosten auf dem bisherigen Niveau verharren können, machen Agora und RAP explizit von der Bedingung abhängig, dass die Zahl der Autos kräftig sinkt. Andernfalls müssten bis 2050 trotz Ladestromsteuerung durch Stromversorger und der generellen Begrenzung der Leistung privater Ladestationen auf 11 kW 108 Milliarden Euro in das Verteilnetz investiert werden (S. 60).
Der „mögliche Investitionsbedarf hinsichtlich des Hochspannungsnetzes für den Zeitraum 2015 bis 2050“ wird unter Verweis auf ein dena-Papier mit „67 Mrd. Euro“ angegeben (S. 62). Für den Fall von 45 Mio Pkw, 11 kW Ladeleistung und so genanntem „gesteuertem Laden“ prognostizieren Agora und RAP somit Kosten von 175 Mrd € bis 2050 für die drei Spannungsebenen des Verteilnetzes.
Investitionskosten in die Übertragungsnetze wurden nicht untersucht.
dena: „Leitstudie Integrierte Energiewende“
Dieses Papierii der deutschen Energieagentur (dena) von 2017 wird in der Verteilnetzausbau-Studie von Agora/RAP zitiert, welche überraschend niedrige Kosten in Aussicht stellt. Es kommt jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis (Hervorhebungen wurden nachträglich hinzugefügt):
„Sowohl in den Technologiemix- als auch in den Elektrifizierungsszenarien wird ein Großteil der Investitionen in der NS-Ebene verortet. … Dies ist insbesondere auf den Zubau neuer Lasten und PV-Anlagen zurückzuführen. Die sich hierdurch ergebene Versorgungsaufgabe kann teilweise nicht durch eine klassische Ertüchtigung der bestehenden Netze beherrscht werden. In diesen Fällen wird der Neubau paralleler Netzinfrastruktur in dieser Netzebene nötig. Dies sorgt für eine deutliche Zunahme des zu erwartenden Investitionsbedarfes.“ (Teil B, S. 215)
Die hohen Kosten kommen zustande, obwohl auch die dena-Modellierungen „Flexibilisierungen“ voraussetzen:
„Es wird in dieser Studie davon ausgegangen, dass Flexibilität in hohem Maße zur Verfügung steht und ökonomisch sinnvoll ist. Somit werden besonders in Zeiten der Spitzenlast, Flexibilitätsmaßnahmen verwendet um Engpasssituationen bei der Erzeugung oder hohe Netzbelastungen zu vermeiden. … Zusätzlich wird davon ausgegangen, dass Schnellladeinfrastrukturen in großem Umfang zur Verfügung stehen. Damit ergibt sich ein vergleichsweise glatt angenommenes Lastprofil aus dem Verkehrssektor.“ (Teil B, S. 35)
Auf diese Weise soll die Spitzenlast begrenzt werden:
„Obgleich auch in allen Szenarien ein hohes Maß an Lastglättung angenommen ist, z. B. durch intelligentes Laden bei Elektro-PKW sowie die Nutzung vorhandener DSM Potenziale, ergibt sich insgesamt eine höhere Spitzenlast.“ (Teil B, S. 204)
Für E-Autos wird eine Spitzenlastkappung von 2 % (Teil B, S. 389) angenommen. Das scheinen die Autoren nicht für ausreichend zu halten:
„In diesem Zusammenhang gilt es zukünftig zu klären, welches ‚Recht auf Mobilität‘ auch in der NS-Ebene für jeden Netznutzer gewährt werden sollte und wie dieses definiert wird.“ (Teil B, S. 216 u. 300)
Für 2050 werden als Bedarf an „gesicherter elektrischer Leistung“ 160 GW genannt (Teil B, Seite 13). Das würde allerdings nur etwa für die Elektromobilität genügen:

Auch diese Autoren gehen von max. 11 kW Ladeleistung an privaten Ladepunkten aus (Teil B, S. 89). Als Gleichzeitigkeitsfaktor wird 16 % angenommen (Abbildung 24). Eine nennenswerte Verringerung des Pkw-Bestands wird nicht vorausgesetzt.
An dieser Stelle macht sich bemerkbar, dass der zusätzliche Strombedarf weiterer Verbraucher wie Wärmepumpen keine Berücksichtigung fand:
„Insbesondere in Ballungsräumen kann jedoch die Zunahme neuer Lasten dazu führen, dass auch eine Veränderung des Starklastfalles netzauslegungsrelevant ist und zu erforderlichen Netzausbaumaßnahmen führt. Hierbei gilt es neben WP und EV auch weitere Treiber des Netzausbaus wie z.B. Schnellladesäulen entsprechend zu berücksichtigen. Dieser Aspekte sollte in weiteren Studien genauer beleuchtet werden.“ (Teil B, S. 217)
Für die Übertragungs- und Verteilnetze werden insgesamt ca. 350 Mrd € kumulierte Investitionskosten für 2018 bis 2050 angegeben (davon 253 Mrd. € für die drei Spannungsebenen des Verteilnetzes und die Szenarien EL80 und EL95 mit umfassenden Elektrifizierungen, s. Teil B, S. 251).
Verweise auf weitere Studien
Seite 67 des Papiers von Agora/RAP enthält eine Einordnung in Ergebnisse der Literatur. Diese werden von Agora/RAP dahingehend interpretiert, dass andere Studien unter den Randbedingungen einer Verringerung der Pkw-Anzahl auf 36 Millionen, maximal zulässiger Leistungen an privaten Ladepunkten von 11 kW und des Verzichts auf Ladestromdrosselungen Kosten von höchstens etwa 200 Mrd € für den Nieder- und Mittelspannungsbereich der Verteilnetze prognostizieren:

An dieser Interpretation irritiert, dass die Ergebnisse der dena-Leitstudie einer Datenwolke zugeordnet werden, die als „ungesteuert“ gekennzeichnet wird, obwohl in diesem Papier explizit von „Flexibilität in hohem Maße“ und „Spitzenlastglättungen“ die Rede ist. Der Verzicht auf diese situationsabhängigen Ladestromdrosselungen durch Stromanbieter dürfte die Kosten deutlich steigen lassen.
Fraunhofer ISI: Langfristszenarien für die Transformation des Energiesystems in Deutschland
In diesem Webinardokumentiii des ISI vom November 2022 wird ein kräftiger Kostenanstieg vorhergesagt (Zitate):
- „In allen betrachteten Szenarien steigen die annuitätischen Kosten der Verteilungsnetze wegen des notwendigen Ausbaus deutlich an“
- „Bis 2045 kommt es in allen Szenarien grob zu einer Verdopplung der Verteilungsnetzkosten“
- „In den Verteilungsnetzen entsteht flächendeckend und bereits kurzfristig ein sehr erheblicher Investitionsbedarf“ (F. 35)
- „Verteilnetze sind der größte Kostenblock bei den Stromnetzen“ (F. 44)
Als Kosten nur für das Verteilnetz werden in einer Zeitreihendarstellung für 2025 bis 2045 ca. 250 Mrd € angegeben – basierend auf der Annahme, dass der Strombedarf der Haushalte im Vergleich zu 2019 um 30% sinken wird (F. 12). Die Folien enthalten keine Angaben darüber, auf welche gesicherte Leistung das Netz aufgerüstet werden soll und welche Leistungen privater Ladepunkte zugelassen werden.
Fügt man diesen Kosten für das Verteilnetz die in der dena-Studie genannten 100 Mrd für die Höchstspannungsebene hinzu, so ergeben sich Gesamtkosten von über 350 Mrd €.
ZVEI: Stromnetze der Zukunft
Wolfgang Weber, Vorsitzender der ZVEI-Geschäftsführung, sagte bei der Vorstellung des obigen Papiersiv vom Februar 2023:
„Wir gehen derzeit von einer Leistungslücke in den Netzen von 80 GW über alle Spannungsebenen aus. Bis 2030 braucht es daher massive Investitionen in diese kritische und über die Energiewende so wichtige Infrastruktur – mindestens 100 Milliarden Euro.“v
80 GW Leistungslücke bedeuten einen Netzleistungsbedarf im Jahre 2030 von knapp 160 GW. Daran ist bemerkenswert, dass die dena in ihrer Leitstudie etwa denselben Wert prognostizierte – jedoch erst für 2050.
Fazit
- Alle Studien begrenzen den Ladestrom auf 11 kW und halten temporäre Ladestromdrosselungen für unverzichtbar. Manche schlagen explizit vor, das Recht auf Mobilität einzuschränken.
- Für eine vollständige Umstellung des Pkw-Bestands auf E-Autos werden unter der Bedingung temporärer Ladestromdrosselungen Investitionskosten bis 2050 für Übertragungs- und Verteilnetze von insgesamt ca. 350 Mrd € angegeben (zum Vergleich: Die kumulierten EE-Vergütungskostenvi von 2000 bis 2022 betrugen knapp 400 Mrd €).
- Das ist indes als untere Grenze zu verstehen, da die Modellierungen die inzwischen beschlossene beschleunigte Umstellung der Gebäudebeheizung auf Wärmepumpen nicht berücksichtigen und teils sogar von einem sinkendem Strombedarf der privaten Haushalte ausgehen.
Quellen:
i https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/studie-verteilnetzausbau-fuer-die-energiewende/
ii https://www.dena.de/fileadmin/dena/Dokumente/Pdf/9261_dena-Leitstudie_Integrierte_Energiewende_lang.pdf
iii https://www.langfristszenarien.de/enertile-explorer-wAssets/docs/LFS3_T45_Szenarien_15_11_2022_final.pdf
iv https://www.zvei.org/fileadmin/user_upload/Presse_und_Medien/Publikationen/2023/Maerz/Stromnetze_der_Zukunft_Studie/2023-03-13_ZVEI_Stromnetze_2030_final_Anpassungen_ZVEI.pdf
v https://www.zvei.org/presse-medien/pressebereich/studie-stromnetze-nicht-energiewende-faehig?utm_source=pocket_reader